Patricia Koelle
Alles voller Himmel
Roman
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-11-1
Leseprobe
2. Anthony
Mein Freund Anthony rief in jeder Nacht an. Ich glaube, er kämpfte gegen die Eile der Zeit, die ihm noch blieb, und gegen die Dunkelheit. Diesmal machte er es ungewöhnlich kurz.
„Hallo Fia, wie wäre es morgen mit einer Dampferfahrt?“, fragte er. „Die weiße Flotte fährt zum ersten Mal in der Saison.“
Für morgen war Regen angesagt, bei gerade mal vier Grad. Aber wenn Anthony einen solchen Vorschlag machte, stellte ich keine Fragen. Dann wusste ich, er brauchte mich – und es lohnte sich immer. Mit Anthony leuchtete jeder Regen. Außerdem hatten wir uns in den sieben Jahren unserer tiefen Freundschaft nur wenige Male gesehen. Wir kannten uns schon drei Jahre, bevor wir uns das erste Mal trafen. Nun würde es nicht mehr oft geschehen.
Kennengelernt hatte ich ihn, weil er jemanden suchte, der das Manuskript eines Kinderbuchs für ihn tippte. Von Geli, einer gemeinsamen Freundin, hatte er erfahren, dass ich solche Nebenjobs machte. Er schickte also seine Geschichten, ich tippte, und da ich von den Texten begeistert war, legte ich dem fertigen Skript einen Brief bei. Er antwortete prompt, und es dauerte nicht lange, bis wir uns täglich schrieben. Es war, als hätten wir uns immer schon gekannt. In uns war ein Gleichklang, ein Staunen über dieselben kleinen Dinge. Wir konnten uns stundenlang über ein trockenes Herbstblatt unterhalten, fanden heraus, zu welchem seltenen Baum es gehörte und spannen Geschichten über seine eigenartige Form. Wir sinnierten über Sternbilder, über die Sagen dazu und gleichzeitig über die neuesten astronomischen Erkenntnisse. Unsere Gedanken griffen ineinander wie Zahnräder; wir trieben uns gegenseitig in ungeahnte philosophische und phantastische Weiten. Anthony schickte mir ständig irgendwelche interessanten Zeitungsartikel. Kleine ergänzende Zeichnungen zierten die Ränder seiner Briefe. Er war Kunstlehrer gewesen. Nach und nach erfuhr ich mehr über ihn: er war einundvierzig, aber Frühpensionär, denn er war schwer herzkrank. Dass er nicht mehr Lehrer sein konnte, hatte ihn schwerer getroffen als die Krankheit.
Nun brachte er eben mir die Dinge bei, die er wusste und die ihn faszinierten. Das war nicht nur Kunst. Physik, Biologie, Mechanik, alles und jedes konnte seine Begeisterung wecken, und die musste er mit jemandem teilen. Wenn ich von der Arbeit kam, freute ich mich schon auf seine Briefe, die meist zehn bis zwanzig Seiten lang waren. Manchmal, wenn er keinen Schlaf fand, fuhr er nachts durch die Stadt, nur um mir einen solchen Brief vor die Tür zu legen, seltsam in Dosen oder als Flaschenpost verpackt oder um einen ungewöhnlichen Stein gewickelt. Es gab nichts Schöneres für mich, als ebenso lange Antworten zu verfassen. In jenen Jahren lernte ich, Geschichten zu schreiben, ohne es zu merken. Schon immer hatte ich mir gerne welche ausgedacht. Bei Anthony konnte ich ungeniert drauflosfabulieren. Er pflanzte Bilder in meine Sprache, lehrte mich, die Welt mit Worten präziser, lebendiger zu malen, wies mich auf blasse Farben, auf schwache Verben und überflüssige Füllwörter, auf schlampige Dramatik hin, trieb mir komplizierte Bandwurmsätze aus. Ich steckte ihn mit meinen Phantasien und Fragen an. Wir weckten gegenseitig das Beste in uns und das Übermütige.
Bald reichten die Briefe nicht mehr. Er gewöhnte sich an, mich abends anzurufen, irgendwann spät, und wir redeten bis nach Mitternacht. Eigentlich hätte ich morgens unausgeschlafen sein müssen, aber Anthony schickte so viel Lebendigkeit durch die Telefonleitung, dass er in mir alles neu und größer aufweckte. Es war, als wollte er das bunte, neugierige Leben, das in ihm brodelte, für das aber seine Zeit nicht mehr reichen würde, zu mir herüberretten.
Jemand unterstellte uns einmal eine heiße Affäre, woraufhin wir beide in schallendes Gelächter ausbrachen. Obwohl das so falsch nicht war: es war eine geistige Affäre, eine großartige, ausgelassene und tiefe Gemeinsamkeit im Denken, voll glücklicher Höhenflüge. Mit keinem anderen Menschen habe ich je so viel lachen können. Es war ein Lachen gegen die Angst, ein Lachen allem zum Trotz und um des Lebens willen, ein schwereloses Lachen, das die Nächte eroberte und nahe daran war, sogar den Sternenschwan zu erschüttern, der im All schweigend seine Bahn zog. Wohl schlich sich mit den Jahren eine unterschwellige Zärtlichkeit selbst durch Tinte und das Telefonkabel in unsere Freundschaft, aber Anthony machte klar, dass er dennoch keine engere Beziehung wollte. Er verhielt sich wie das Licht auf der Oberfläche eines tiefen Sees. Das Funkeln schenkte er mir, aber an dem Dunkel der Abgründe, an seiner Furcht und seiner Melancholie ließ er mich nicht teilhaben, damit ich nicht mit ihm darin unterging. Aus diesem Grunde erlaubte er nur sehr selten, dass wir uns sahen. Ob er es sich und mir damit leichter machen wollte oder nur nicht mehr die Kraft zu haben glaubte – ich weiß es nicht. Vielleicht fehlte ihm auch der Mut. Auf dieses Wort war ich im Zusammenhang mit ihm noch nie gekommen, aber als ich ihn heute am verabredeten Treffpunkt auf dem Bahnhof Wannsee stehen sah, dachte ich an die Anzeige von gestern.
War meine seltsame Wut daher gekommen, weil es eigentlich Anthonys mangelnder Mut zu einer Beziehung war, der mich ärgerte?
Anthony war einsfünfundachtzig groß; er fiel unter den anderen Reisenden sofort auf. Wenn wir uns umarmten, war es dennoch immer, als wage er nicht, ganz anwesend zu sein. Im Zug ging er an mehreren freien Bänken vorbei, bis ihm eine zusagte. „Ich fahre nicht mehr gerne vorwärts“, sagte er erklärend. Nachdenklich blickte er in die Landschaft, die wir hinter uns ließen.
Bei seinen Worten durchfuhr mich eine kalte Angst. Wie war das mit dem Mut? Wenn er schon nicht mehr wagte, vorwärts zu blicken, wie viel Zeit hatte er noch, hatten wir noch? Ich selbst hasste es, rückwärts zu fahren; ich setzte mich ihm gegenüber. In das Schweigen hinein erzählte ich ihm von der Anzeige und meiner Antwort darauf. Von der Stimme, die in meinem Kopf gewesen war, sagte ich nichts, wohl aber, dass ich überhaupt nicht wusste, warum ich einem Fremden geschrieben hatte.
Über Anthonys Gesicht flog ein Schatten, kurz nur. Eifersucht? Ich gebe zu, ich hatte insgeheim darauf gehofft. Dann erzählte er mir etwas über die Gebäude, an denen der Zug vorüberflog. Erst kurz bevor wir in Potsdam ausstiegen, sagte er plötzlich: „Das hast du gut gemacht, das mit dem Rollstuhlmann!“
Auf dem Boot lehnten wir nebeneinander an der Reling, ohne uns zu berühren. Ich konnte Anthonys feuchten Parka riechen und seinen Tabak und seinen ganz eigenen Duft nach Tinte und alten Büchern und Erde. Es nieselte sanft aus einem gleichmäßig grauen Himmel. Die Bäume am Ufer waren von einem zarten optimistischen Hellgrün; das Land wirkte weich wie eine Pastellzeichnung. Der Frühling träumte sich wach; es war, als hielte alles voller Erwartung den Atem an. Die Havel schien ihm entgegenzufließen und wir mit ihr. Ich dachte an einen Winter meiner Kindheit, als ich auf der froststarr innehaltenden Havel Schlittschuh gelaufen war. Im klaren Eis eingeschlossen hatte ich gefrorene Fische entdeckt, die nicht tot wirkten, sondern besonders farbig und leuchtend, als hätten sie nur auf ihrem Weg angehalten, in ihrer Schönheit wie für die Ewigkeit bewahrt. Genau wie diese Augenblicke mit Anthony: auch sie würden, in meiner Erinnerung eingeschlossen, für immer unversehrt und gültig bleiben.
An der Freundschaftsinsel unterbrach der fast leere Dampfer die Fahrt, hier konnte man einkehren. Wir verzichteten auf Kaffee und machten einen Rundgang. Eine Weile standen wir nachdenklich vor einer Skulptur, die als Inschrift ein Zitat des Gärtners und Autors Karl Foerster trug: „Wer seine Träume verwirklichen will, muss wacher sein und tiefer träumen als andere.“ Hier und da trafen wir Pärchen, wie man sie im Frühling trifft, händchenhaltend und strahlend, in ihrer ganz eigenen Welt. Ich sah ihnen nach; ich gönnte ihnen ihr Glück, gleichwohl kroch in mir eine Traurigkeit hoch wie einer der Regenwürmer, die auf dem nassen Pfad einen trockenen Platz suchten. Anthonys Hände steckten tief in seinen Taschen. Er sah nicht den Pärchen nach, sondern beobachtete einen Großvater, der ein glückliches, zahnloses Lächeln trug und mit seiner Enkelin verbotenerweise die Schwäne fütterte. „Ich wäre gern einmal ein fröhlicher alter Mann geworden“, sagte Anthony, mehr zu sich selbst als zu mir.
Das junge Gras war schon kräftig und darauf breitete sich eine blauviolette Blume aus, so dicht, dass es fast aussah, als hätte das Wasser vom See die Wiese geflutet. Die Namen der meisten Wildblumen kenne ich, diese hier war mir neu. „Weißt du, wie die heißt?“, fragte ich Anthony. Er schüttelte den Kopf. „Dann nenne ich sie Anthonyblume“, sagte ich ein wenig zu fröhlich. Er schnaubte belustigt und wechselte das Thema.
„Ich will etwas, das mich an dich erinnert!“, dachte ich trotzig. Und tatsächlich, diese unbekannte Blume hat sich seitdem sogar in der Stadt ausgebreitet, Jahr für Jahr mehr, auf Grünstreifen, in Gärten, am Wegrand. In jedem April und Mai begegnet mir die Anthonyblume neu. Dann ist jener Tag plötzlich wieder da und Anthony steht vor mir, mit seinen müden und trotzdem leuchtenden Augen und seinem spöttischen halben Lächeln.
Er schenkte mir einmal ein Gedicht, in dem ich diese Zeilen fand:
… ich lausche
dem Wispern welker Blätter,
meine Blicke
folgen ihrem wirbelnden Flug,
wenn der Wind sie davonreißt.
Wäre ich solch ein Blatt,
versuchtest du,
mich zu fangen?
Das hatte er geschrieben, lange ehe wir uns kannten und bevor er wusste, wie krank er war. Als wir uns begegneten, war es längst zu spät. Darum versuchte ich nie, ihn zu fangen, noch hätte er es zugelassen. Aber ein warmer, sanfter, fröhlicher Herbstwind wirbelte uns eine lange Wegstrecke nebeneinander her, und dieser Weg wies mir meine Richtung.
Der Dampfer trug uns weit auf den Templiner See. Wir kosteten jede Minute aus, zählten die Graureiher und die Haubentaucher, erfanden Geschichten zu den Häusern am Ufer. Der Regen wurde stärker, kümmerte uns aber nicht. Ich sah, wie die Tropfen sich in Anthonys Haaren und Brauen verfingen. Silbern spiegelte sich die Dämmerung in ihnen.
Auch auf dem Dampfer blickte er nicht vorwärts; wir standen die ganze Zeit am Heck. Als wir schließlich ausstiegen, war es schon dunkel. Die feste Erde fühlte sich fremd an unter meinen Füßen. Als wir uns zum Abschied umarmten, blickte ich zu ihm hoch, und da sah ich den kalten Schatten in seinen Augen.
Ich wusste, ich würde ihn nie wiedersehen. Er würde nicht heute gehen, auch nicht morgen, wir würden noch oft telefonieren, noch viele Briefe schreiben – aber gesehen hatte ich ihn heute zum letzten Mal. Wir wussten es beide.
Da dachte ich an Mut, und ich küsste ihn, zum ersten und zum letzten Mal. Ich schmeckte Salz und die Currywurst von vorhin, schmeckte Rauch und Sehnsucht, Gewissheit und Bedauern und den Tod auf seinen Lippen, aber in diesem Moment lebten wir, und alles war richtig.
Abends ging mir der Zauber jenes kühlen Frühlingsabends nicht aus dem Sinn. Ich versuchte, die Aquarellfarben meiner Erinnerung auf Papier zu bannen. Jedoch war ich nicht zufrieden mit dem vagen Ergebnis und schickte es Anthony, der mit wenigen geübten Strichen unsere Landschaft dieses Tages daraus zauberte, so dass man nicht sah, wo ich aufgehört und er angefangen hatte.
Noch war Zeit, uns zusammen an der Welt zu beglücken.
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[…] Anthony überhaupt noch etwas würde erzählen können. »»» Hier geht es weiter: Kapitel 2. Anthony *** Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art nur mit […]