Patricia Koelle
Alles voller Himmel
Roman
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-11-1
Leseprobe
4. Männer im Schuhkarton
Die Obstbäume blühten von einem Tag auf den anderen wie ein Aufatmen. Ich brachte Alina bei, in den Schulhofkirschbaum zu klettern, in dessen weißer, duftender Wolke sie sich leicht fühlte. Später versuchten wir, die Pusteblumen auf der Wiese zu zählen. Vogelküken schlüpften, schrien nach Futter und wurden flügge. Dann rundeten sich die Erdbeeren dick und duftend. Tim und Benny halfen mir beim Erdbeereismachen. An fast jedem dieser Frühlings- und Frühsommertage bekam ich inzwischen einen Brief von Jonathan, den ich längst wie seine Freunde Jono nannte. Fehlte der Umschlag mit seiner schon vertrauten Handschrift, so lag es daran, dass kein Passant vorbeigekommen war, erklärte er mir. Denn Jono schaffte es zwar, mit dem Rolli aus dem Haus und um die Ecke zu kommen, konnte die Arme jedoch nicht zum Briefschlitz heben. So wartete er stets geduldig, bis jemand vorbeikam, der ihm den Brief einwarf.
Jonos Zeilen waren so anders als Anthonys, klar und bodenständig und doch voller Lebensfreude und Wärme. Liebevoll. Schnell wurden sie mir zur wichtigen Gewohnheit, ohne dass ich es so recht bemerkt hatte. Ihm zu schreiben war erholsam, bei Anthony war es ein Abenteuer.
Anthony fragte oft nach Jono, wollte erst alles über ihn wissen, freute sich sogar über die (rein äußerliche) Ähnlichkeit; dann wurden seine eigenen Briefe und Anrufe seltener.
Nach einiger Zeit ergriff Jono die Initiative und rief mich an. Von da an immer öfter und schließlich jeden Abend.
„Ich muss dir was erzählen“, sagte er einmal, „aber nicht lachen!“
„Erzähl!“
„Ich habe seit vielen Jahren in Abständen immer und immer wieder denselben Traum. Von drei Mädchen, die auf einer Wiese spielten. Zwei davon waren älter, eins noch ziemlich klein. Ich habe mich immer sehr wohlgefühlt in diesem Traum und ich spürte irgendwie, er ist wichtig. Abends beim Einschlafen habe ich mich oft danach gesehnt, ihn wieder zu träumen. Auch während meiner Ehe, als sie anfing auseinanderzugehen. Ich hatte immer das Gefühl: irgendwas stimmt noch nicht in meinem Leben, und der Traum ist ein Hinweis darauf.“
Er schwieg. Ich spürte, da war noch was. Und ich dachte an meine beiden um einiges ältere Schwestern, mit denen ich oft und gern auf einer Gänseblümchenwiese gespielt hatte. Jono wusste noch gar nichts von ihnen.
„Nachdem wir das erste Mal miteinander telefoniert haben, habe ich diesen Traum wieder geträumt. Nur diesmal war etwas anders. Das jüngste Mädchen hat mich gesehen. Es hat mich angelacht und mir zugewinkt, ich solle zu ihm kommen.“
Dieses Bild nahm ich mit in meinen eigenen Traum.
Wenn ich nachts Anthony am Hörer gehabt hatte, lag ich manchmal noch wach oder schrieb Texte. Seine Gedanken ballten sich zu Knäueln in meinen eigenen, öffneten Wege; Ideen wurden aus ihnen geboren und forderten Fortsetzung, Fragen tauchten auf. Nach einer Unterhaltung mit Jono hingegen schlief ich fast immer seltsam geborgen, wie vor einer Ewigkeit nach dem Sandmännchen im Fernsehen. Wenn Jono mir eine gute Nacht wünschte, dann wurde sie hell und gut.
Ich nahm das alles zunächst hin, ohne dass es mir bewusst wurde, denn ich hatte beruflich viel zu tun. Jono schlich sich währenddessen auf seine hartnäckige Weise unmerklich in meine Welt; Anthony aber stahl sich ebenso kaum spürbar nicht nur aus meinem, sondern aus allem Leben. Als mir das endlich auffiel, fühlte es sich an wie eine stille Übergabe, so als denke er, er könne nun gehen, da er mich in guten Händen wisse. Ich verdrängte den Gedanken. Doch Anthony beschleunigte seinen Abschied selbst. Er hüllte seine Selbstzweifel in dichte Rauchschwaden unzähliger Zigaretten und löste seine Angst und sein Bedauern in einem gnädig schimmernden Meer aus Whisky. Ich wusste es von unserer gemeinsamen Freundin Geli. Manchmal erwähnte er es auch selbst. Doch niemals fasste er in meiner Gegenwart ein Glas an.
Ich hatte Anthonys Briefe von Anfang an aufgehoben und gebunden. In meinem Bücherregal wohnen mehrere Bände mit seiner fließenden Handschrift und seinen Zeichnungen. Er seinerseits verbrannte stets nach dem Lesen alle Schriftstücke, die er von irgendwem bekam. Es war immer, als verwische er ständig alle Spuren, als wollte er nicht, dass sich in seinem Dasein etwas ansammelte.
An dem Tag, an dem Jono in einen Brief die erste Blüte des Schmetterlingsstrauches aus seinem Garten legte, wusste ich, dass wir zueinander passten und er etwas Besonderes war. „Es war das Schmetterlingsloch in deinem Brief – daher habe ich dir geantwortet und nicht den anderen“, gestand er mir bei der Gelegenheit. Seltsam, was für kleine Dinge das Schicksal ändern können. Was, wenn ich diesen Locher nicht geschenkt bekommen hätte? Wenn damals jemand anderer meinen Namen beim Julklapp aus der Lostrommel gezogen hätte, jemand, der Kerzen oder Kekse verschenkt?
Irgendwann wünschte sich Jono ein Treffen und bat um meinen Besuch. Ich hatte über die Möglichkeit einer Beziehung immer noch nicht wirklich nachgedacht. War ich Anthony zu ähnlich? Fehlte mir etwa auch der Mut? Wenn, dann war der Rollstuhl nicht der Grund. Schließlich versprach ich Jono, ihn zu besuchen, nach Abschluss meiner bevorstehenden zehntägigen Fortbildung. Vorher hatte ich beim besten Willen keine Zeit.
Meine Freundin Tina schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Bist du verrückt geworden? Wie kann man nur so naiv sein? Du kannst doch nicht zu einem wildfremden Mann in die Wohnung spazieren!“
Mit Tina hatte ich außer dem Beruf wenig gemeinsam. Ich trug gern alte Jeans und Sweatshirts, sie am liebsten Ballkleider. Wiesen und Bäume waren ihr kaum ein Begriff, eher Kunst und Antiquitäten. Aber mit Männern kannte sie sich aus, auch wenn oder weil sie in dieser Hinsicht von einer Katastrophe in die nächste schlitterte.
„Aber dieser Mann sitzt im Rollstuhl und kann die Arme nicht mal zum Briefschlitz heben“, protestierte ich. „Er kann mir wohl kaum gefährlich werden!“
„Der kann dir viel erzählen“, meinte Tina düster. „Woher willst du wissen, ob das alles stimmt?“
Ich zweifelte an nichts, was Jono mir erzählt hatte. Aber schließlich bat ich ihn darum, ob wir uns woanders treffen könnten.
„Kein Problem“, stimmte er sofort zu. „Wie wäre es mit dem Zoo? Da war ich schon ewig nicht mehr.“
Ich auch nicht. So verabredeten wir uns für den neunten Juli am Zooeingang, am Elefantentor, einen Tag nach meiner Fortbildung.
Während des Kurses war ich vollauf beschäftigt und fand keine Zeit, mir über Anthony, Jono oder nötigen Mut den Kopf zu zerbrechen. Am letzten Tag machte der Kursleiter mit uns zum Abschluss einen Ausflug in den Park, mit Picknick. Zum Ausklang hatte er noch eine Überraschung. Er häufte einen Berg Schuhkartons und Scheren in unsere Mitte und mehrere Körbe mit Bastelmaterial. Da fanden sich Samt- und Glitzerstoffe, Perlen und Steine, Filz und Lederreste, Watte und Stöcke.
„So“, sagte er. „Nun schneidet ihr Löcher in die Kartons, vorne lasst ihr eins offen und die anderen überklebt ihr mit Transparentpapier eurer Wahl. Dann füllt ihr den Karton mit Dingen, deren Farbe, Form oder Beschaffenheit euch anspricht und ordnet sie an, wie es euch gefällt. Zum Schluss klebt ihr den Deckel obendrauf. Dann hebt ihr sie gegen die Sonne und schaut hinein.“
„Wozu soll das Ganze gut sein?“, erkundigte sich einer der ewigen Zweifler. „Was sollen wir da sehen?“
„Wie es in euch aussieht, zum Beispiel. Man erlebt so manche Überraschung. Und außerdem macht es Spaß.“
Wir lagerten also gemütlich auf dem Sommergras und wühlten in unordentlichen Haufen und Assoziationen. Es machte tatsächlich Spaß. „Ich kann mich nicht entscheiden“, sagte eine der stets Unentschlossenen. „Kann ich auch zwei Kartons machen?“
Ich habe eine große Schwäche für kuriose Dinge. Am Ende füllte auch ich zwei Kartons. Als ich den einen in das schräg abendgoldene Licht hielt, sah ich eine ganz eigene Welt darin, wie aus einem dieser Träume, die man morgens noch verschwommen im Gedächtnis hat, um sie dann prompt zu vergessen bis auf das vage Gefühl, etwas verloren zu haben. Blau und kühl war es darin, wie unter Wasser. Dunkler Samt mit ein paar glitzernden Sternen lag in einer Ecke, ein grünes Netz und krumme Äste wie Treibholz in einer anderen, ein paar ausgeblichene Zeitungsschnipsel, glatte graue Kieselsteine, ein Schneckenhaus und ein kreisrunder etwas abgenutzter Radiergummi, eine Sanduhr. Außerdem ein Bleistiftstummel und ein halbleerer Farbnapf aus einem Tuschkasten.
„Anthony“, dachte ich. „So ist es mit Anthony.“
Im anderen Kasten entdeckte ich etwas ganz anderes. Hell war es darin und warm, denn das Transparentpapier warf gelbes, grünliches und orangenes Licht hinein wie an einem warmen Abend kurz vor Sonnenuntergang. Klar war alles darin und wirklich. Sand und weiße Muscheln, ein gelbes Stück Seide, ein Keks, duftende Grasbüschel, Gänseblümchen, ein Schmetterlingsflügel. Ein paar Fäden Lametta warfen ein Glitzern in den kleinen Raum.
„Jono“, dachte ich. „So ist Jono.“
„Und? Welcher gefällt dir besser?“, fragte der Kursleiter und hockte sich neben mich.
„Darum geht es nicht“, dachte ich. „Darum nicht.“
Einige begannen, sich zu verabschieden und aufzubrechen. Während ein paar andere eine Flasche Wein öffneten, spähte ich noch immer in die Kästen. Es war faszinierend, wie sich mit der sinkenden Sonne und dann der beginnenden Dämmerung das Licht änderte und die Bilder. Die Schatten auch. Und ich hatte das unheimliche Gefühl, dass ich im Begriff war, mich mit ihnen zu ändern.
„Suchst du was Bestimmtes?“, fragte mich Sonja, mit der ich mich ein wenig angefreundet hatte.
„Ja“, sagte ich. „Den Mut, morgen in den Zoo zu gehen.“
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